top of page
michel2428

The Art of Staying with the Trouble

„Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ – so lautet der Titel eines Werkes von Armin Nassehi, das 2021 erschien. Nicht nur dort, auch anderswo kann man immer wieder die Analyse hören, dass Menschen in dieser Gesellschaft immer mehr Kraft und Zeit dafür brauchen, ihr eigenes Leben im Griff zu halten – wenn sie es überhaupt im Griff haben – und so immer weniger Ressourcen für mehr Gemeinschaft, Solidarität oder Zusammenhalt vorhanden sind. Alle sind permanent von allem gefordert, eingespannt, gestresst und schließlich überfordert. Man kann diese Vorstellung hinterfragen und auf andere Studien, beispielsweise zum ehrenamtlichen Einsatz, verweisen. Schwer von der Hand zu weisen ist jedoch die Einsicht, dass unsere ziemlich ausdifferenzierten Lebenswelten in einem solchen Maße Aufmerksamkeit und Zeit fordern, dass für vieles andere die Zeit auf der Strecke bleibt. „Muße“ ist zum alten Wort geworden, Wellness, Ruhe, Retreat, Work-Life-Balance, Achtsamkeit – alles Stichworte, die versuchen, ein Gegengewicht zu installieren. Ich teile den Eindruck vieler – auch vieler Wissenschaftler – dass die Rede von der überforderten Gesellschaft nicht ganz fehlgeleitet ist.

Dies trifft auch für das System Wissenschaft zu. Der Universalgelehrte ist schon lange eine Figur der Geschichte. Doch selbst im je eigenen Fach hat kaum noch eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler einen Überblick über die vielfältigen Forschungsrichtungen, ob nur im deutschsprachigen Raum oder gar international. Jedes Jahr wird eine neue Wende, ein neuer turn ausgerufen, Sonderforschungsbereiche entstehen und vergehen, und der Stoff bleibt nicht nur so umfangreich, wie er je schon war, er wächst immerfort an. Das führt nicht nur leicht zu einem Gefühl der Überforderung, es führt auch dazu, dass man stets vorsichtig sein muss, was man zu welchem Thema sagt. Programmatik ist weniger häufig zu finden, und vor allem ist jede Programmatik schwer durchzuhalten, wenn der Überblick kaum zu haben ist, die Grenzen des eigenen Wissens und Begreifens also überall spürbar sind.

Möglicherweise beschreibe ich damit einen Grund, warum es angesichts von Klimakrise, Ökologischer Krise, Artensterben und Tiersklaverei immer wieder engagierte Gruppen gibt, aber keine Kehrtwende in Sicht ist. Alles wirkt zu groß, zu komplex, zu unerreichbar. Und dies gilt hierzulande gerade auch für die Wissenschaftslandschaft in Theologie und Philosophie. Selten findet sich der Mut zu einer gewissen Radikalität, einer Programmatik, einem wütenden Wort, einer Kehrtwende mit Schwung.

Wissenschaft hat differenziert zu sein, aber wer sagt, dass das nicht radikal und programmatisch geht? Diese Frage stelle ich wahrscheinlich zuallererst mir selbst! Denn ich bin Zeit meines Lebens zumeist ein vorsichtiger Denker gewesen, der achtsam mit Urteilen und sparsam mit der Programmatik war, erst recht im öffentlichen Raum. Doch ich merke, wie sich etwas wendet.

Es ist leicht, vegan zu sein und sich gegen Massentierhaltung einzusetzen. Es ist unglaublich schwierig, die Ansprüche und Lebensweisen von acht Milliarden Menschen wahrzunehmen und dann noch klare Urteile oder gar Forderungen im Blick auf Tiertötung, Fleischkonsum, Tierleid, Artensterben und Tiersklaverei zu formulieren. Die großen politischen Gipfel, wie gerade erst der sogenannte Biodiversitätsgipfel (2024), führen dies nur auf einer sehr abstrakten Ebene vor. Muss man deshalb an Radikalität und Konsequenz zurückhaltend sein?

Ich gehöre einer Generation an, die die Konsequenzen einer rasanten globalen Erwärmung und einer drastischen ökologischen Katastrophe am eigenen Leib spürt, und vor allem zu spüren bekommen wird. Das gilt a fortiori von der Generation meiner Tochter. „Katastrophe“ ist das drastische, aber schon inflationär abgeschliffene Wort, das hier anzulegen ist. Die Tatsache, dass auch Jahrzehnte nachdem beide Katastrophen erkannt wurden, keine Kehrtwende in Sicht ist, vielmehr unvermindert mehr Schaden als Begrenzung hervorgebracht wird, macht keine Hoffnung. Hier noch radikal zu sein, wirkt wie ein Streiten auf verlorenem Posten.

Donna Haraway hat in ihrer unverkennbaren, inspirierenden – aber schwer zu durchdringenden Sprache – gegen diese Haltung geschrieben. Und sie hat zu einer Programmatik gefunden, die eine Antwort auf das von mir beschriebene Dilemma gibt. Der Titel ihres Buches sagt alles: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucen (2016) [PP]. Katastrophenzeiten sind immer Zeiten, in denen alles immer wieder neu in Frage gestellt wird. Es sind per se Zeiten der Überforderung. Aber in ihnen zu überleben und mehr noch: in ihnen ein gutes Leben zu führen – das erfordert zum einen konsequent und radikal eigene Überzeugungen, eine eigene Ethik und Moral, einen Lebensentwurf aufzubauen und – was wohl das Schwierigste ist – ihnen zu trauen. Und es erfordert zum anderen, sich nicht ins Abseits zu flüchten, sich nicht weiszumachen, dass die Katastrophe schon nicht kommen wird, dass wir noch 1,5 Grad erreichen, oder dann eben 2 °C, dass unsere Demokratie schon stabil bleibt, dass wir einfach wie bisher weitermachen können, mit sozialer Marktwirtschaft, Automobil und Konsum. Es wird etwas anderes erforderlich sein, in dieser wunderbaren Wendung: staying with the trouble. Ein solches Leben gibt es nur völlig aufgewühlt inmitten der immer wieder neu entfachten Unruhe. Aber gerade in diesem Aufruhr – persönlich, wissenschaftlich, in Lebensform und Lebenswelt – in alledem heißt, staying with the trouble, eben: bei der Sache bleiben, das verstrickt-komplizierte aushaltend Position und Geschwister finden – making kin [PP].

“We — all of us on Terra — live in disturbing times, mixed-up times, troubling and turbid times. The task is to become capable, with each other in all of our bumptious kinds, of response. Mixed-up times are over1owing with both pain and joy — with vastly unjust patterns of pain and joy, with unnecessary killing of ongoingness but also with necessary resurgence. The task is to make kin in lines of inventive connection as a practice of learning to live and die well with each other in a thick present. Our task is to make trouble, to stir up potent response to devastating events, as well as to settle troubled waters and rebuild quiet places.“[1]

Eine so beschriebene Aufgabe steht einem allzu unbestimmten Sowohl-als-auch genauso gegenüber wie einer unterkomplexen Parole. Diese Aufgabe beschreibt nichts weniger als eine Kunst. Und Kunst entsteht wohl meistens aus Leidenschaft,[2] aus Nähe und Verstrickung, die im Kreativen zu einer neuen Perspektive findet, und nicht aus der Distanz, vor deren Auge alles in gleicher Entfernung steht. Und dennoch ist Kunst auch ein Weg, etwas zugänglich zu machen, sie kann die Welt oder unseren Blick neu ordnen.[3] Die Kunst, miteinander zu leben, mit Menschen, anderen Tieren, Pflanzen, Bergen und Meeren, erlaubt nicht mehr, und hat im Grunde auch nie erlaubt, nur aus der Distanz zuzuschauen. „Schiffbruch mit Zuschauer“ [PP] ist eine ziemlich prägnante Metapher für den Zustand unserer Gesellschaften und das in ihr wirksame Ideal, Katastrophen lieber zu analysieren als … tja, das führe ich nicht weiter, es genügt die positive Beschreibung: Die Kunst, miteinander zu leben, erfordert, Unruhe zu entfachen, mit dem Aufgemischten zu leben, es von Nahem in aller schwierigen Komplexität zu erfahren, und in alledem mit einer gewissen Leidenschaft radikal zu sein. Zu dieser Radikalität gehört meiner Überzeugung nach, nicht mehr dualistisch zwischen Natur und Kultur zu trennen, nicht mehr objektiv sein zu wollen, wo Objektivität längst schon das Subjekt vor mir verraten hat, indem es nur Gegenstände sieht, keine Individuen, Wälder und Brachen, die je ihr eigenes Mitspracherecht haben, wenn es um das unmögliche, und doch unverzichtbare richtige Leben im falschen geht.


(Michel Steinfeld, November 2024)


[1] Haraway, Staying with the Trouble, 1.

[2] Samuel Alexander bemerkt, dass „das Werk des Künstlers nicht von einer fiktiven Erfahrung ausgeht, der das Kunstwerk angepaßt wird, sondern von einer leidenschaftlichen Erregung über den Gegenstand … . Das Gedicht des Dichters wird diesem durch den ihn bewegenden Gegenstand abgerungen“. So heißt es in der Darstellung von John Dewey [Dewey, Kunst als Erfahrung, 78ff.]

[3] Dewey:  „In dem Maße, in dem Kunst ihr Amt ausübt, ist sie ein Neuschaffen der Erfahrung der Gemeinschaft in Richtung auf eine stärkere Ordnung und Einheit.“ [Kunst als Erfahrung, 97]

4 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page